Zwischen Hollywood und Manchester United

Anatole Taubman auf einer Leinwand oder einem Screen zu sehen, ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Für mich gerade schon. Corona-bedingt treffen wir uns im Zoom-Call. Er ist locker und gut drauf. Spielt er eine Rolle? Ich glaube nicht. Er ist Anatole. Der Mensch, der er schon immer sein wollte.

Fotografie: © Mirjam Kluka

Herr Taubman, was macht einen guten Schauspieler aus?

In vorgegebenen Umständen so ehrlich und wahrhaftig wie möglich zu sein. Ob im 12. Jahrhundert mit dem Kopf unter einer Guillotine, im 21. Jahrhundert als korrupter Finanzhai in der Vorstandssitzung oder wenn man einfach nur an einem Tisch hockt und der anderen Rolle zuhört. Man muss «in» diesem Moment sein. Das wurde uns auch schon auf der Schauspielschule indoktriniert. Nur so entsteht eine authentische Performance, die berührt und mit der sich das Publikum identifizieren kann.

Aber wie wird eine Rolle ehrlich und wahrhaftig?

Die grösste Herausforderung für einen Schauspieler ist es, sich einer Rolle hinzugeben und zu verstehen, warum sie so ist und nicht anders. Man muss überzeugt sein, dass alles, was diese Rolle in diesem Moment macht, absolut richtig ist. Es ist ein intimer Prozess. Ich versuche die Rolle zu «bewohnen» ohne Wenn und Aber. Jede Rolle kann man nur aus der eigenen Perspektive erzählen. Sie entsteht aus meiner Fantasie und aus meinem Gepäck.

Was ist denn Ihr Gepäck?

In der Schauspielerei bin ich aus einem gewissen Darwinismus gelandet. Nicht, weil ich das unbedingt wollte und mir vorgenommen hatte. Als ich fünf Jahre alt war, wurde ich zum Heimkind. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Du wirst Aussenseiter, bist ruhig und verschlossen oder du wirst «laut», um zu überleben. Unbewusst hab ich mich nach einigen Jahren für die zweite Option entschieden und bin der Clown geworden. So erntete ich Lachen, bekam Liebe und Bestätigung. Allerdings sahen die anderen oft nur den Unterhalter, nicht Anatole. Als Teenager fühlte ich mich nicht wirklich ernst genommen. Dann kam die Erleuchtung, eine Eingebung. Ich war siebzehn.

Jede Rolle kann man nur aus der eigenen Perspektive erzählen.

Nach Hollywood kommt so aber auch nicht jeder …

Als Kind und Jugendlicher war es nicht einfach und ich bin oft aus Schulen geflogen. Meine Mutter hat mich dann ins Kloster Einsiedeln gesteckt, was schlussendlich meine Rettung war. Dort gab es eine Theaterschule. Im ersten Jahr kam der Leiter, Pater Kassian, zu mir und wollte, dass ich den Hauptbösewicht «Shylock» im Shakespeare- Klassiker «Der Kaufmann von Venedig» spiele. Ein ganz böser, geiziger, verbitterter, alter Mensch. Zunächst dachte ich, dass diese Rolle überhaupt nicht zu mir passt. Nachdem ich es gelesen hatte, wollte ich dem Ganzen aber eine Chance geben.

Und so wurde Ihr Talent entdeckt … der romantische Start einer Filmkarriere.

Nein. Ob man Talent hat, weiss man gar nicht. Darum ging es auch nicht. Aber die Schulaufführung war tatsächlich ein toller Erfolg. Es waren alle da. Nach der Vorstellung kamen die Schulkollegen zu mir und konnten kaum glauben, dass ich es war. So gemein und so böse. Das war mein Erleuchtungsmoment. Mir wurde klar: Sie glauben dem Shylock, also müssen sie auch dem Anatole glauben. Sie nehmen den Shylock ernst, also müssen sie auch mich ernst nehmen. Darum wurde ich Schauspieler.

Was nehmen Sie noch aus dieser Zeit mit?

Meine Kindheit war sicher nicht superglorreich. Es gibt schönere Orte als ein Heim. Vermutlich wird man immer von der eigenen Biografie affektiert und trägt diese Bürde das ganze Leben mit sich. Ich bin jetzt aber an einem Punkt im Leben, an dem man sein Gepäck erkennen, es annehmen, umarmen und vergeben muss. Nur so kann man etwas ändern. Diese Reise zu mir selbst hab ich gemacht. Meine Teenagerjahre waren auf eine gewisse Art auch sehr unbeschwert. Es waren anderen Zeiten ohne Internet, was ich als Segen empfinde. Es waren Zeiten von Schreibmaschinen und Tipp-Ex. Das Telegramm war das schnellste Medium und es war sündhaft teuer. Die ganze Weltgeschwindigkeit war massiv gedrosselt. Manchmal wünschte ich mir, es wäre wieder so.

Mich interessiert das Böse im Menschen.

Sie gingen auf eine Schauspielschule in New York City. Geht eine grosse Filmkarriere nur in den USA?

Nein, das denke ich nicht. Auch hatte ich gar nicht den Traum von Hollywood. Als Teenager habe ich mir fanatisch Filme angeschaut. Auch um in andere Welten zu flüchten. Ich habe die Schauspielschule geliebt. Wir hatten eine tolle Klasse, ungefähr zwanzig Leute. Ich war der einzige Europäer. Und dort begann die Arbeit. Ich kam als Entertainer an diese Schule, wurde dort aber komplett «gebrochen». Back to the Basics und zu den eigenen Gefühlen. Man wird zu den tiefsten Abgründen, Schmerzen und Trauer aus der Kindheit geführt, um diese Erinnerungen beim Spielen als emotionales Werkzeug zu benutzen. Das war archaisch und brutal. Drei schmerzhafte, ehrliche, begeisternde Jahre mit ganz tollen Lehrern. Es war wie eine Therapie. Und eine der schönsten und tollsten Erfahrungen. Gerade in New York. Die Stadt war total belebend.

Welche Rollen nehmen Sie an? Welche nicht?

Das Wichtigste sind das Drehbuch und die Geschichte. Sie muss mit globalen Gefühlen überall verstanden werden können. Es muss eine Rolle sein, die mich berührt und eine Wandlung durchmacht. Eine, die am Ende anders ist als am Anfang des Films und nicht einfach nur eine Funktion darstellt. Wichtig ist aber auch, wer Regie führt, wer mitspielt und produziert.

Dennoch sehen wir Sie meistens als Bösewicht …

«Good Guys» sind halt nur gut. Es gibt oft nur einen Weg, gut zu sein. «Bad Guys» sind vielschichtiger und spannender, wie ein Kaleidoskop. Jeder Mensch hat eine dunkle Seite. Die Anatomie der menschlichen Psyche ist so komplex. Warum ist ein Mensch böse? Das finde ich viel interessanter.

So wie Elvis, der James-Bond-Bösewicht. War dies Ihr Ritterschlag?

Tatsächlich war ich gar nicht so ein Bond-Fanatiker. Mir war auch nicht klar, wie gigantisch das ist. Bis heute der teuerste Spielplatz, auf dem ich jemals rumspielen durfte. Bei den Dreharbeiten wurde mir bewusst, wie unfassbar gross diese Weltmarke ist. Ein eigenes Universum.

James Bond ist ein eigenes Universum.

Wie schafft man es, sich in die Rollen reinzuversetzen?

Es braucht ganz viel Recherchearbeit im Vorfeld. Man muss die Zeiten und die entsprechenden Beweggründe verstehen. Zudem schreibe ich über alle meine fiktiven Rollen eine eigene Biografie bis zu dem Punkt, wo das Drehbuch beginnt. Ich muss für mich wissen, woher diese Figur kommt, welche Eltern sie hatte, wie sie aufgewachsen und was schiefgelaufen ist. Dieser Prozess startet zwei Monate vor den Dreharbeiten.

Fliessen gewisse Eigenschaften von Rollen auch in die eigene Persönlichkeit ein?

Super Frage! Über die reflektierte ich kürzlich grad selbst. Ich war in Hamburg bei Dreharbeiten und spielte einen sehr gefährlichen Mann, Lorenz Degen. Er war zwanzig Jahre im Gefängnis, bricht aus, ist voller Zorn, will Rache und hat einen Plan. So sitze ich also beim Nachtdreh in einer dunklen Küche mit zwei Knarren und warte, bis mein Widersacher kommt, um ihn umzubringen. Wenige Stunden davor war ich mit meiner Frau und meinem Sohn zusammen, als liebevoller Ehemann und spielfreudiger Papa. Was für ein «verrücktes» Leben. Das Böse zu kreieren und dann den Switch zu machen, ist eine extreme Herausforderung. Ich lebe meine Rollen hundertprozentig. Nach jedem Dreh nehme ich mir ein, zwei Tage Auszeit, bevor ich in die «normale, reale» Welt zurückkehre. Ich verabschiede mich von der Figur. Wenn es eine tolle Produktion war, fühlt sich dieser Abschied wie ein kleiner Tod an.

Müssen Filme auch immer etwas bewegen oder reicht «pures» Entertainment?

Entertainment sind Gefühle. Ob «flach» oder nicht. Gerade Hollywood kann Entertainment und Tiefe grossartig verbinden. Wenn diese Gefühle darüber hinaus etwas bewegen, zum Nachdenken anregen und auf das aufmerksam machen, was dringend Beleuchtung braucht, dann ist es der Jackpot! In erster Linie sehe ich mich aber als Hofnarr und Geschichtenerzähler.

Wenn ich mich von meinen Figuren verabschiede, ist dies wie ein kleiner Tod.

Sie sind auch ein grosser Fussballfan. Wie kam es dazu?

Ich bin sogar ein religiös-fanatischer Fussballfan. Die Liebe zu Manchester United kam durch meinen Vater, der eine wahnsinnige Geschichte hat. Er kam aus Königsberg, 1909 geboren, ein Wunderkind an der Geige, Jude, flüchtete nach England. Die haben ihn geliebt, weil er durch die Oper und klassische Musik viele Sprachen konnte. So kam er zum Secret Service. Ins berühmte Regiment «The Green Howards» in Yorkshire, unweit von Manchester. Er nahm mich im Mai 1976 zu meinem ersten Live-Fussballerlebnis mit: Wembley, FA-Cup-Finale. ManU gegen Southampton. ManU hat zwar verloren, aber mich als Fan gewonnen.

Als UNICEF-Botschafter engagieren Sie sich für Kinder – was bewegt Sie?

«To make the world a better place for the weakest.» Wenn du beispielsweise im Ostkongo Kinder triffst, die jahrelang nach Diamanten oder Rohstoffen schürfen mussten, bleibt dir das Herz stehen. Da musst du einfach helfen. Ich finde es toll, dass UNICEF Schweiz und Liechtenstein auch nationale Projekte lancieren. Sie machen einen hervorragenden Job und sind sehr transparent. UNICEF ist Teil von meinem Herzen.

Der britische Schweizer.

Anatole Taubman wurde am 23. Dezember 1970 in Zürich geboren. Sein Vater stammt aus Königsberg, seine Mutter ist eine geborene Wienerin. Seine Grosseltern kommen aus Russland, Polen und der Slowakei. Der Schweizer Schauspieler mit britischem Pass hat sich durch zahlreiche internationale Filme einen grossen Namen gemacht. Besonders gerne spielt er die Rolle des zwielichtigen Bösewichts. Er besuchte die Stiftsschule im Kloster Einsiedeln, wo er seinen Schulabschluss absolvierte. Die Kunst der Schauspielerei erlernte er an der renommierten «Circle in the Square Theatre School» am Broadway in New York. Ende der 1990er-Jahre begann seine professionelle Schauspielkarriere. Seitdem spielte Anatole Taubman Haupt- und Nebenrollen in über 110 Film- und Fernsehproduktionen in Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, den USA und der Schweiz – darunter in der HBO-Serie «Band of Brothers», den BBC-Serien «Spooks» und «Waking the Dead», im Action-Thriller «96 Hours», Politdrama «Secret Défense», im Historiendrama «Die Päpstin» und Bestsellerverfilmung «Die Säulen der Erde». 2008 bekam er die Rolle des Bösewichts Elvis im 22. James-Bond-Film «Ein Quantum Trost» neben Daniel Craig. Wer Anatole Taubman auf der Kinoleinwand sehen will, hat demnächst wieder Gelegenheit dazu. Im Family-Entertainment-Film «Der junge Häuptling Winnetou» von Warner Bros. (geplanter Kino-Release im Oktober 2021) verkörpert Anatole den Schurken. In der Kinoadaption von Jeremias Gotthelfs Novelle «Die schwarze Spinne» spielt er den Teufel. Im Kinofilm «Bis wir tot sind oder frei» des Schweizer Regisseurs Oliver Rihs sieht man ihn als radikalen Staatsanwalt.

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