Mit Fingerspitzengefühl
Herr Schnyder, wenn man an einen Pianisten denkt, kommt schnell das Bild vom einsamen, stillen Kämmerlein…
Verständlich – ja, die sprichwörtliche Einsamkeit des Pianisten… Es entspricht meinem Wesen im Grunde nicht, mich vor Publikum zu exponieren. Aber das, was im stillen Kämmerlein und sozusagen im Vakuum entsteht, in einsamer Arbeit, will und muss ich irgendwann nach aussen tragen.
Sie sind Musiker, Pianist und Interpret aus Leidenschaft. Wie erklären Sie Ihr Schaffen?
Ich forsche, experimentiere, verwerfe. Man hat das Werk eines anderen vor sich und versucht, ihm auf die Schliche zu kommen, sein Wesen zu ergründen und herauszufinden, was es mir bzw. uns sagen will. Der Komponist vermittelt die entsprechende Botschaft in der Partitur, verschlüsselt in schwarzen und weissen Notenpunkten. Die Kunst des Interpreten besteht schliesslich im erfolgreichen Entschlüsseln und Übersetzen in eine klingende Darstellung. Als nachschaffender Künstler steht man in der zweiten Reihe.
Wann ist diese Forschungsarbeit erfolgreich?
Wenn ich zur Überzeugung gelange, das Werk auf eine Art darstellen zu können, die der Intention des Komponisten gerecht wird. Der Weg dahin führt über dunkle Phasen des Zweifelns, bisweilen gar des Verzweifelns. Unangenehm, aber als Triebfeder für künstlerische Entwicklungsprozesse unabdingbar. Nach einem Konzert bleibt mir vor allem in Erinnerung, wie gross die Distanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit war und wie ich sie beim nächsten mal verkürzen kann.
Und wie viel Eigenanteil, wie viel Oliver Schnyder steckt dabei in den Stücken?
Einiges. Als Instrumentalist hat man seine eigene Klanglichkeit. Es ist wie eine Handschrift. Allerdings: Wenn ich mich zufällig am Radio höre, ohne zu wissen, dass ich es bin, erkenne ich mich interessanterweise nicht immer – im Gegensatz zu einer geneigten Hörerschaft, die mein Spiel als unverwechselbar empfindet. Was beweist, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung zwei verschiedene Paar Schuhe sind.
Die klassische Musik ist seit Kindheitsjahren ein unvermeidlicher Teil von Ihnen. Erinnern Sie sich an den Anfang?
Mein Elternhaus war seit jeher beschallt von Musik, vorwiegend klassischer. Unsere Nachbarin – eine Musiklehrerin – besass ein altes Klavier, zu dem ich mir als Dreijähriger über die gemeinsam genutzte Waschküche Zugang verschaffen durfte. Schon bald realisierte die Nachbarin, dass meine Klimperei einer gewissen Systematik folgte, worauf sie meinen Eltern mitteilte, dass sie die Ausdauer dieses Knirpses bemerkenswert fände. Zwei Jahre später kauften mir die Eltern ein Klavier und schickten mich zum Unterricht.
Und Sie haben seither nicht mehr die Finger davon gelassen. Hatten Sie je einen Plan B?
Nein – ist das nicht unglaublich? Erst heute, mit 49, stelle ich mir die Frage nach dem Plan B. In einem Alter, in dem den meisten von uns die eigene Vergänglichkeit, Hinfälligkeit bewusster wird. Was, wenn ich meine Hand verletze? Und: Was möchte ich künstlerisch eigentlich noch erreichen?
Haben Sie Antworten darauf?
Schnell stellt sich eine Gewissheit ein, die aus meinem Innersten kommt: Musiker werde ich immer sein, solange mein Kopf noch funktioniert. Wenn mein Bewegungsapparat nicht mehr mitmacht, erschliesse ich mir andereKanäle: Ich kann jederzeit mehr unterrichten, vielleicht dirigieren, Musik vermitteln, ohne selber zu spielen. Die Tätigkeit als Intendant von Konzertreihen und Festivals verfolge ich schon heute intensiv – auch sie sind Ausdruck meines Bedürfnisses, ein Leben im Dienste der Musik zu führen. Ich muss also nicht unbedingt selber spielen, um Musiker zu sein. (Lächelt.)
Wie oft stehen Sie auf der Bühne?
Das ist nicht jedes Jahr gleich. Grundsätzlich spiele ich nun etwas weniger als noch vor der Corona-Pandemie. Ich habe mich entschieden, mein Bühnenrepertoire aus Rücksicht auf meine Energieressourcen etwas kleiner zu halten, weshalb ich auch weniger Engagements annehme. Dieses Jahr sind es ungefähr fünfzig Konzerte.
Also fast jede Woche eines…
Das ist für mich eine gute Zahl. Ich habe in jüngeren Jahren auch schon neunzig gespielt, doch das war in einer Zeit, in der ich mich voll und ganz auf die Konzertlaufbahn konzentrierte und auch noch keine eigene Familie hatte.
Wo finden Sie neben dem vielen Üben und Spielen Inspiration und Anregung?
Am schönsten ist es, wenn sie einen überkommt, wenn man sie gar nicht erwartet. Ich bin einer, der mit ausgefahrenen Antennen durch die Welt und den Alltag geht und sich potenziell an sämtlichen Dingen inspirieren lässt. Meistens aber stellt sich die Inspiration erst bei harter Knochenarbeit am Instrument ein. Dann wiederum in der Natur oder im zwischenmenschlichen Austausch. Ich habe ein Netz an Freunden, die in den verschiedensten Künsten zu Hause sind. Allen voran in der Literatur. Literatur ist für mich sehr wichtig, ich bin ein Bücherwurm, schreibe auch selbst gerne, aktuell an einem Künstlerdialog zusammen mit dem bedeutenden Schriftsteller Alain Claude Sulzer.
Wann schätzen Sie Momente der Stille?
Ganz ehrlich? Immer. Ich bin jemand, dessen Wesen die Zurückgezogenheit sucht. Ich leide etwas unter Misophonie, vermeide das Laute. Auch die konstante Berieselung mit Musik im öffentlichen Raum irritiert mich über die Massen. Grosse Menschenmassen meide ich. Eigentlich ist es paradox, dass ich mich trotzdem gerne auf die Bühne begebe. Doch dort bin ich in meiner Bubble, meinem Safe Space.
Wie hängen Stille und Musik zusammen?
Musik kommt aus der Stille. Musik bedingt Stille. Musik proportioniert, ordnet und gestaltet die Zeit und kommt so ohne Worte zu ihrer Aussage. Sie ist also eine «Zeitkunst». Zwei Töne, die nacheinander erklingen, sind ordnende Ereignisse, Inzidenzen. Der musikalische Fluss – die Musik – entsteht dazwischen.
Das muss ich nachklingen lassen. Erklären Sie das Prinzip genauer.
Die Zeit ist nach unserer Vorstellung ein horizontales Phänomen, ergo ist es auch die Musik. Die Taste, die den Ton erzeugt, wird hingegen in vertikaler Richtung niedergedrückt, ist also die Interpunktion des Zeitkontinuums.
Wie viel Improvisation hat Platz zwischen den Zeilen?
Improvisation ist für alle Musikschaffenden von zentraler Bedeutung. Ich bin allerdings nicht einer von jenen – wie etwa die grossen Jazzmusikerinnen und -musiker –, die aus dem Stegreif Musik erschaffen können. Für mich liegt das improvisatorische Element in der Freiheit, im Konzert spontan eine der vielen erarbeiteten Varianten zu wählen, durch die unterschied- liche Aspekte des vorgetragenen Werkes beleuchtet werden. Vom Publikum wird dies kaum bewusst wahrgenommen, aber mir gibt es beim Spielen das Gefühl von einer wohltuenden Distanz zu mir selber und von der Magie des Augenblicks.
Haben Sie ein Ritual vor Ihren Konzerten?
Der Konzerttag bedeutet Tunnelblick: Mein einziger Fokus gehört dem abendlichen Auftritt. Ich brauche Stille, muss allein sein und mich am Instrument unablässig vergewissern: «Ja, es geht noch, ich kann’s schon noch!» Eine Stunde vor dem Auftritt stellt sich dann eine spezielle Ruhe, ein «Om» ein.
Der Urklang – eine Art Urvibration…
Dieses Om hat etwas Fatalistisches, es bedeutet mir: «Jetzt musst du – keine Umkehr möglich.» Es schafft eine Klarheit, eine Gewissheit, dass ich mich auf der Bühne wohl fühlen und «liefern» werde. Lampenfieber gehört natürlich dazu – das kennen wir alle. Ach ja, fast hätte ich’s vergessen: Das Om konstituiert sich aus autogenem Training sowie einer Banane, schwarzer Schoggi, Nüssen und zwei Liter Wasser… (Lacht.)
Sie haben bereits auf unterschiedlichsten Kontinenten gespielt. Wie beeinflusst das ihre Art, Musik zu machen?
Es gibt Publika, bei denen man eine erhöhte Aufmerksamkeit und innige Anteilnahme spürt. Besonders in Japan, in Taiwan oder Südkorea – das sind Nationen, die die klassische Musik vor noch nicht allzu langer Zeit für sich entdeckt haben. Es besteht ein Nachholbedürfnis und eine berührende Wertschätzung und Dankbarkeit für eine Materie, die westlicher Provenienz ist. Umgekehrt lässt sich das nicht im gleichen Masse behaupten: Wir interessieren uns zwar auch etwa für Martial Arts, aber nicht mit vergleichbarer Hingabe.
Klassische Musik wird von einem ganz bestimmten Publikum gehört.
Ja, das Interesse an klassischer Musik entwickelt sich in der Regel erst ab einem gewissen Alter, dann nämlich, wenn die Menschen realisieren, dass ihre gesammelten Lebenserfahrungen, sämtliche Höhen und Tiefen, darin ein klingendes Abbild finden. Als Musiker sind wir gefordert in unseren Vermittlungsbemühungen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Staffelstab auch in Zukunft an nachkommende Generationen weitergereicht wird.
Dafür engagieren Sie sich national in diversen Veranstaltungsreihen und in einem Kulturzentrum. Erzählen Sie von Ihrem Engagement.
Ich bin Mitbegründer und künstlerischer Leiter der Klavierreihe Piano District, Co-Intendant des Festivals Lenzburgiade – gemeinsam mit meiner Partnerin – sowie künstlerischer Leiter des Kulturzentrums La Prairie Bellmund. Das sind alles Tätigkeiten, die mich mit Freude erfüllen und bei denen ich etwas weitergeben kann.
Und Sie sind Teil des Oliver Schnyder Trios – das 2023 das zehnjährige Jubiläum feiert. Gratulation!
Danke. Wir haben das Jubiläum in der Londoner Wigmore Hall und in der restlos ausverkauften Tonhalle Zürich gefeiert. Sogar die Bühne musste zu unserer grossen Freude bestuhlt werden…
Wie würden Sie die Kraft des Kollektivs beschreiben?
Im kammermusikalischen Kollektiv lassen sich die ansonsten einsamen Arbeits- und Entwicklungsprozesse teilen, und zwar mit Menschen von gleicher Chemie und mit denselben Idealen. Das ist ein fantastisches Ventil. Während unserer Trioproben verständigen wir uns mittlerweile praktisch ohne Worte, auf einer Ebene der intimen Kommunikation, die blindes Vertrauen schafft.
Was würden Sie als Ihren grössten Erfolg verbuchen?
(Überlegt lange.) Gewiss nicht die klassischen Karrierestationen. Natürlich war etwa der erste Auftritt in der Carnegie Hall für mich zum damaligen Zeitpunkt ein wichtiger Meilenstein, auch andere Debuts und «Firsts». Am ehrlichsten ist es, zu sagen, dass mein grösster Erfolg darin besteht, nie den eigenen Kompass verloren zu haben, immer noch hungrig und neugierig zu sein auf neue musikalische Welten und Verheissungen. Und das Gefühl, dass die öffentliche Wertschätzung für mein Tun immer noch so ausgeprägt ist, über die Jahre sogar noch gewachsen ist.
Sie wirken sehr demütig…
Eigentlich nicht so cool, oder? Die Fähigkeit zur Demut ist aber wichtig, wenn es darum geht, verantwortungsvoll mit einer Partitur umzugehen, im Wissen, der Grösse des Werks nie vollumfänglich gerecht werden zu können. Und es trotzdem immer wieder aufs Neue anzustreben – wie ein Sisyphos. Das hindert einen am Verlust der Bodenhaftung. Auch wenn mir Bach, Beethoven und Schubert bisweilen aufmunternd zuflüstern: «Take it easy, man!» (Schmunzelt.)