Die Entschleunigte
Edith, was verstehst du unter «ein Sieg für das Leben»?
Wenn man es schafft, ein glückliches Leben zu führen. Was für mein Verständnis bedeutet: zufrieden sein mit dem, was du hast. So auch mit dem Weg, auf dem du dich befindest. Wenn du es schaffst, im Augenblick zu leben, dann ist das für mich ein Sieg fürs ganze Leben. Es sind nicht die Medaillen, die zählen. Es ist die Familie und der Genuss an der gegenwärtigen Präsenz.
Wie ist das so, wenn du auch Jahre nach der Profisportkarriere auf der Strasse erkannt wirst?
Ich bewege mich, wie alle anderen Anwohner im Dorf, ganz normal und stelle für mich gar keinen Unterschied fest. Es ist wohl eher das Umfeld, welches wahrnimmt, dass sie nun mit mir unterwegs sind. Da ich auch heute noch sehr viel trainiere, ergeben sich oft Situationen, in denen mich Menschen auf der Strasse ansprechen. Und was mich immer wieder überrascht: es sind vor allem junge Leute, die auf mich zukommen. Mich freut das! Auch die Frage: «Darf ich mit Ihnen ein Selfie machen? (Lacht)
Das Leben hat 1994 für dich eine drastische Wende genommen. Was hat der Autounfall mit dir gemacht?
Was ich sagen kann und immer noch deutlich spüre ist, dass ich nach dem Unfall wie ein zweites Mal erwachsen wurde. Ich musste alles noch einmal neu erlernen und bin daran – tief im Innern – gereift. Das hat es für mich am Anfang auch schwierig gemacht, mich bei meinen Freundinnen und Freunden wieder einzugliedern, denn mein Denken hatte sich verändert. Enorm schwierig war es, sich dann zurecht und seinen Platz zu finden und den Alltag zu definieren. Das waren harte Zeiten mit Hochs und Tiefs.
Und geholfen hat dir in diesen schwierigen Zeiten ...
Das soziale Umfeld. Wenn ich meine Familie nicht gehabt hätte, dann wäre ich heute nicht da, wo ich mich jetzt befinde. Ich bin zuhause mit der Einstellung aufgewachsen, dass hinter jedem Moment eine Chance steckt. Du musst sie einfach ergreifen. Ich bin in einem schönen Familiengefüge mit Gedankenreichtum gross geworden. Das Glas war immer halb voll! Wenn du gelähmt bist, dann änderst du dich als Mensch ja nicht. Es ist vielleicht das Äussere, das sich verändert, aber nicht der Wesenskern oder der Charakter. Rückblickend sage ich mir immer wieder im Leben, «was immer du erlebst, das macht dich zu der Person, die du bist.» Mein Vater sagte einmal zu mir: «Ich wusste, so ein Schicksalsschlag darf nur dir widerfahren, denn du hast den Willen und die Kraft, mit dieser Situation zurechtzukommen.»
Welche Kraft steckt dahinter?
Zuerst muss man lernen, dankbar zu sein. Ich bin dankbar dafür, dass ich da bin und mit einem Schweizer Pass in ein Leben geboren wurden, das so reich an Möglichkeiten ist. Das ist ein Privileg. Wir sind verwöhnt, dabei liegt der Zauber des Alltags direkt vor unseren Augen. Wir schauen immer schon viel zu weit. Wir wollen immer mehr und das Jetzt geht dabei verloren. Mehr Dankbarkeit!
Wärst du sportlich auch ohne diesen Unfall so erfolgreich gewesen?
Ich finde diese Frage sehr schwierig zu beantworten. Ich frage ja schliesslich auch niemanden: «Wäre dein Leben lebenswert, wenn du ein Handicap hättest?» In Bezug auf Sport wahrscheinlich nicht. Aber ich hätte sicher auch ein spannendes Leben geführt. Es wäre sicher auch erfüllt gewesen, einfach anders. Ich habe diesen Weg ja nicht freiwillig gewählt.
Wie würdest du dir wünschen, dass die Paralympics und Olympischen Spiele künftig durchgeführt würden?
Es gäbe keine Trennung dieser beiden Kategorien, ausser diejenigen Sportarten, welche als separate Disziplin angeschaut und bewertet werden. Genau so, wie man das mit den unterschiedlichen Distanzen beim Laufen zum Beispiel schon macht. Das wäre mein Wunsch von Integration. Alles könnte zum selben Zeitpunkt stattfinden und man geniesst die gleiche Öffentlichkeit. Nur ist das nicht so einfach. Ich musste die Gründe für die getrennte Durchführung auch über verschiedene Gespräche verstehen lernen. Es ist nicht möglich, alle zu integrieren. Man kann den Anlass nicht so weit in die Länge ziehen. Dahinter steckt auch eine enorme Organisation, eine riesige Menschenmenge. Und bei den behinderten Sportlerinnen und Sportlern sind ja zum Beispiel auch jene mit Sehbeeinträchtigung und Amputationen dabei – also ganz viele Unterkategorien. Und dazu kommen die Betreuenden. Man müsste viele Abstriche machen, zu denen aktuell niemand gewillt ist. Man müsste die Spiele neu überdenken. Und dann kommt oft das Argument von der Gegnerschaft dieses Ansatzes, dass ganz viele Sportarten ja nicht einmal olympisch sind.
Wie hast du die Paralympischen Spiele erlebt?
Ich durfte drei Paralympics erleben. Athen, meine erste Erfahrung. Peking – dort waren die Stadien voll, ich dachte mir «Na ja, im asiatischen Raum gibt es ja auch viel mehr Menschen und somit auch Handicapierte.» Dann London. Alles ausverkauft, eine unglaubliche Stimmung, die gleiche, wie Wochen zuvor an den Olympischen Spielen. Das war ein fühlbarer Support, schöner hätte man es nicht erleben können. London hat es fertig gebracht – das mag daher kommen, dass die Engländer bereits eine Geschichte mit Kriegsveteranen besitzen, ich weiss es nicht – sie machen aus den Sportlerinnen und Sportlern Heldenfiguren. Es war nichts anders als an den Olympischen Spielen. Vom Aufbau und von der Stimmung her identisch. Ein unvergessliches Erlebnis. Da vermittelte niemand den Sportlerinnen und Sportlern ein Gefühl von Mitleid.
Was könnte die Positionierung in der Öffentlichkeit noch stärken?
Beispielsweise mehr Marketingverträge mit handicapierten Sportlerinnen und Sportlern. Das geschieht zum Glück bereits. Vereinzelt sieht man auch in der Modebranche immer mehr Diversität von Handicap bis zu Hautfarbe. Du kannst mit Amputationen über den Laufsteg gehen, oder mit Prothesen. Es tut sich was. Ich denke auch, dank der Sozialen Medien entwickelt sich die Awareness immer stärker. Heute ist man ja schon viel besser vernetzt und sichtbarer als noch zu meinen Zeiten. Man hat es auch selbst in der Hand, ob man einen Post macht oder nicht. Früher, wenn Radio und Fernsehen nicht berichtet hatten, dann blieben die Informationen einfach aus.
Du sprichst jetzt die Selbstvermarktung an, wie gut kommt die an?
Natürlich wäre es sinnvoll, wenn es für Handicapierte mehr professionalisierte Mittelmenschen für Marketingverträge oder Öffentlichkeitsjobs gäbe. Ich habe mich nie selber bei Firmen angepriesen. Ich wusste, wenn sie mit mir zusammenarbeiten wollen, dann kommen sie auf mich zu. Dann haben sie bereits eine Absicht und sich die wichtigen Gedanken schon gemacht. Ich bin dankbar für einen guten Kollegen, der mich in diesen Belangen immer wieder tatkräftig unterstützt hat. Immer dann, wenn ich mich nicht mehr selber gewagt habe, hat er gut für mich verhandelt. Ich habe beispielsweise auch aus finanziellen Gründen mit Referaten begonnen, vom Profisport alleine konnte ich nicht leben. Und spannenderweise ist auch genau dieses Referatehalten ab durch die Decke gegangen.
Worum geht es in den Referaten?
Um Willen und Veränderungen im Leben. Wir alle kennen genug Krisen, Finanzkrisen oder was auch immer. Ich glaube, die Referate waren gefragt, weil es authentisch war. Weil ich aus meinem Leben erzählt habe und auch davon, was hinter dem Vorhang der öffentlichen Bühne geschieht. Ich glaube, Ehrlichkeit zahlt sich aus. Ich sehe mich aber nicht als Coachin in dieser Rolle. Man kann anderen Menschen keine Ratschläge fürs Leben geben. Ich werde oft gefragt, «Was kann man einer Person im Rollstuhl mit auf den Weg geben?» Ich habe keine Ahnung. Ich glaube man braucht Zeit, um dies für sich herausfinden zu können. Und Zeit muss man jedem Menschen einräumen und Respekt und Achtung entgegenbringen. Aber Ratschläge habe ich keine.
Du bist Botschafterin der Laureus Stiftung. Eine Stiftung, deren Schwerpunkte die Gesundheitsförderung, die Mädchenförderung und Integration sind. Was bedeutet diese Aufgabe für dich?
Es bedeutet mir sehr viel. Kinder liegen mir am Herzen, sie sind ja auch unsere Zukunft. Etwas weitergeben können von dem Glück, welches ich viele Jahre empfangen durfte, finde ich wichtig. Ich bin seit Beginn mit dabei, seit der Gründung. Die Stiftung hat sich immer weiterentwickelt. Beim Projekt LAUREUS CAVALLO ermöglichten wir zum Beispiel sozial und wirtschaftlich benachteiligten Kindern den Umgang mit Pferden kennen zu lernen. Auch für mich persönlich bedeutete dies eine Herausforderung. Nämlich die, auf ein Pferd zu steigen. (Lacht) Den Kindern konnten wir damit etwas zeigen, was sie so noch nicht kannten.
Wie definierst du Integration?
Miteinander. Die Aufhebung von Barrieren. Es ist mir bewusst, es gibt auch natürliche Grenzen, es geht um die Miteinbeziehung. Um das wertefreie Aufeinanderzugehen. Jede und jeden seine eigenen Stärken leben lassen. Denn unterschätze nie dein Gegenüber.
Was verstehst du unter die «Kraft des Sports»?
Sieg und Niederlage sind nie näher als beim Wettkampf. In Tränen aufgelöst sein aus Freude oder aus Enttäuschung ist unsagbar intensiv. Die Gratwanderung zwischen Sieg und Niederlage ist enorm, so intensiv erlebt man das nirgends sonst. Und alles was man sich wünscht im Ziel, bei Sieg oder Niederlage, ist eine Umarmung. Einfach, um die Energie loszuwerden. Nur wer Niederlagen erlebt, lernt zu kämpfen.
Was möchtest du deiner Tochter mit auf den Weg geben?
Geniesse den Augenblick. Liebe, was du machst. Und man darf sich nicht zu wichtig nehmen. Ich frage meine Tochter bei allem was sie tut, beim Sport oder sonst wo «Hey, hast du Freude daran? Das ist das Wichtigste am Ganzen. Und du darfst nicht immer gewinnen, sonst weisst du gar nicht, wie schön es ist zu siegen.»
Welcher Gegenstand in deinem Zuhause steht für Edith Wolf-Hunkeler? Beschreibe ihn und warum gerade dieser?
Mein Ahornbäumchen. Es ist wie das Leben, kommt und geht mit den Jahreszeiten. Oder das Nanibäumchen – das Kuschelbäumchen hier auf der Terrasse. Die Dinge haben immer einen Namen bei mir. Es hat diesen Namen bekommen, weil ich dort auch gerne meinen Kopf reinstecke, einfach so. «Lacht» Wäre ich ein Tier, ich wäre eine Katze. Ich spreche auch mit den Bäumchen, sie sollen wissen, dass sie schön sind. Ich mag Pflanzen und ich erinnere mich auch gut an ein Erlebnis aus meiner Kindheit mit einer Amaryllis. Ich wollte, dass sie wächst. Also sprach ich zu ihr «wachse, wachse...» Und habe am Stängel gezogen, damit sie dies noch schneller tut. Und plötzlich hatte ich die Pflanze in der Hand. «Lacht» Ich habe den Stängel dann wieder zurück in die Erde gesteckt.
Leichtathletin der Herzen
Die Luzernerin Edith Wolf-Hunkeler wurde am 30. Juli 1972 geboren. Die Kaufmännische Angestellte erlitt 1994 auf dem Weg zur Arbeit einen schweren Autounfall und ist seither gelähmt. Mit dem Parasport begann sie kurz nach ihrer Reha in Nottwil. Anfangs trainierte sie ohne Ambitionen. Schnell jedoch zeigte sich ihr Talent für den Rollstuhlsport und heute ist sie zweifache Paralympics Goldmedaillen-Siegerin und vieles mehr. Zu ihren Disziplinen gehören 100 Meter, 200 Meter, 400 Meter, 800 Meter, 1500 Meter, 5000 Meter und Marathon. Als Sportlerin räumt sie mit vielen Vorurteilen auf, und beweist auch bei Diskussionen zum Thema Integration einen langen Atem. Sie bricht Tabus, wo sie kann. So wurde sie während ihrer Profisportkarriere Mutter und moderierte im Schweizer Fernsehen Sport und Kulturveranstaltungen. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter war sie an den Paralympics London 2012 schon wieder auf der Rennstrecke anzutreffen. Der Erfolg kann sich sehen lassen: Gold über 5000 Meter, Silber über 1500 Meter und 800 Meter und Bronze über 400 Meter. 2015 trat Edith Wolf-Hunkeler vom Spitzensport zurück. Mit Tochter Elin und Mann Mark wohnt sie heute in Dagmersellen LU.